Die Höllenlöcher bei Bad Urach

Ein Fenster ins Innere der „Werkstatt Erde“

Schmal, wurzelreich und erdig, geschottert, gekiest oder laubbedeckt und wohl mit steil ins Tal abfallendem hangseitigem Gelände, doch aber festem Boden und beruhigender Anlehnung an meist ausgedehntere Wald- oder Ackerhochflächen, so stellen sich dem Wanderer normalerweise die Wege dar, die am Albtrauf, jener vom Tal aus imposant aufsteigenden obersten Stufe des Schwäbischen Schichtstufenlands, entlangführen. In aller Regel merkt dieser also auf seinen Streifzügen nicht viel von jenem Vorgang, der bereits mit der Anhebung des Meeresbodens gegen Ende der Jurazeit vor etwa 140 Millionen Jahren begann und sich bis heute unaufhaltsam fortsetzt, nämlich der Erosion oder Abtragung von Gestein, ja ganzen Felsformationen oder Schollen, die je nach Lage und Erdzeitalter zwischen anderthalb und sieben Zentimetern im Jahr betragen soll. So war beispielsweise die Gegend um Stuttgart herum, heute gute 35 Kilometer von der Traufkante entfernt liegend, vor 15 Millionen Jahren noch in den Albkörper eingebunden, und auch die Achalm, der Hausberg der Reutlinger, einst Teil der Schwäbischen Alb und heute einsames vorgelagertes Überbleibsel jener Zeiten, berichtet als Zeugenberg von der unablässigen Arbeit jener Kräfte, die am Albgestein knabbern, schleifen, hobeln und feilen und die da heißen Wind, Regen, Eis und Schnee.

Wer sich aber auf den Weg zu den Uracher Höllenlöchern macht, hat die seltene Gelegenheit, genau diese Vorgänge aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen – und ein bisschen auch das Fürchten zu lernen.

Albtrauf in Längsrichtung gespalten

Die kurze, etwa halbstündige Wanderstrecke beginnt für den von Bad Urach her per PKW Anreisenden an einem kleinen, etwas verborgenen Parkplätzchen beim Hülbener Bauhof unmittelbar am Ortseingang. Ein Hinweisschild des Schwäbischen Albvereins weist dem Wanderer die Richtung, und auf einem geteerten Weg, der zunächst stetig bergan führt, erreicht er in etwa 10 Minuten den Waldrand, wo er, sich rechts haltend, von einem gekiesten Waldweg aufgenommen wird. Erreicht er nach etwa einer einem geschätzten Kilometer Wegstrecke kurz nach einer geradeaus zum Albtrauf führenden und vom Hauptweg sich trennenden Abzweigung eine Aussichtsbank und biegt dort erneut nach rechts ab, so tut sich ihm nach wenigen Schritten ein gewaltiges Fenster in die Erdgeschichte auf, das ihm eindrucksvolle Einblicke in die „Werkstatt“ der Abtragungskräfte ermöglicht.
Schneeweiße Kalksteinbrocken mit glatten, zum Teil frischen Bruchflächen bedecken allüberall den Weg, in nie gesehenem leuchtendem Karottenrot präsentieren sich die darüber hinweg kriechenden Nacktschnecken und der sonst so verlässlich wirkende Albtrauf wird in Längsrichtung von tiefen Klüften zerschnitten und zeigt sich infolgedessen auf einmal dreireihig statt wie bisher einreihig. Als befinde er sich buchstäblich im Zustand der Auflösung, so wirkt er an dieser Stelle – und nicht viel anders verhält es sich auch tatsächlich.

Kein Wunder also, dass die vor uns Geborenen, die diesen Abgründen auf ihren Streifzügen durch den Wald begegneten, sie als Tor zur Hölle betrachteten und entsprechend als „Höllenlöcher“ bezeichneten. Einzelne kleinere Schlüchte, dunkel, schmal und in ihrer Tiefe uneinsehbar, wurden denn auch schon aus Sicherheitsgründen eingezäunt, um vorwitzige Wanderer und Spaziergänger vor Fehltritten mit späteren Folgen zu bewahren.

Wer rüttelt am Trauf?

Wie aber ist es zu diesem Phänomen gekommen? Wer rüttelt da am Albtrauf und reißt solche Spalten auf, versetzt mannsbreite Schollen haarscharf an schwindelerregende Abgründe, spaltet scheinbar festen Boden in schmale Streifen, welches Riesen Hände sind da am Werk?

Walter Röhm, Verfasser des Bad Uracher Wanderbuchs, erklärt die Entstehung der Höllenlöcher – eigentlich sind es Spalten in den Felsen des in diesem Bereich der Alb obenauf liegenden Weißjura delta – damit, dass die darunterliegenden Mergelschichten des Weißjura gamma als wasserundurchlässig anzusehen sind. Infolgedessen muss in die oberen Schichten eingedrungenes Wasser, stößt es auf den Mergel, austreten und entlang des Abhangs abfließen und kann nicht versickern. Bei diesem Vorgang, so Röhm, weichen die Mergelschichten auf und werden schlüpfrig, sodass sie den darüber liegenden Felsen keinen ordentlichen Halt mehr bieten. Dieser Vorgang setzt sich so lange fort, bis einzelne Schollen ausreißen und zu Tal gehen. Bei den schwindelerregend schmalen, talwärts liegenden – um nicht bereits zu sagen hängenden – Felsen handelt es sich also um dem Absturz geweihte, aber noch nicht zu Tale gegangene Schollen, die sich durch den oben beschriebenen Vorgang vom Albkörper schon gelöst haben. Wann sie anderen, ihnen vorausgegangenen Absturzkandidaten folgen werden, dürfte schwer abzusehen sein.

Beeindruckende zehn Meter sind die Felswände der größten der Spalten hoch und kommen sich gegenseitig an der schmalsten Stelle bis auf sieben, acht Meter nahe. Anders als die auf der andern Seite des Ermstales gelegenen Dettinger Höllenlöcher, die begehbar sind und an denen mithilfe von eisernen Leitern gar emporgestiegen werden kann, gehören die Höllenloch-Felsen diesseits des Tales bereits zur Kernzone des Biosphärengebiets und dürfen nur vom sicheren Albvereinsweg aus bestaunt werden. Bannwald umgibt sie, die Natur darf sich selbst regulieren, wovon eine Vielzahl von Zunderpilzen an den Stämmen eine beredte Sprache spricht, und so werden auch die Wege, die von dort einst hinab führten ins Tal, nicht mehr gepflegt und erhalten und werden in einigen Jahren unter dem sie bedeckenden Buschwerk nicht mehr zu sehen sein. Betrachtet man die senkrechten Felsen vom Weg aus, so zeigen sich im verwitterten Grau der schon länger Wind und Wetter ausgesetzten Stellen auch immer wieder solche, die heller und glatter aussehen als das sie umgebende Gestein aussehen und darauf hinweisen, dass erst kürzlich frisch ausgebrochene Steine im Innern der Schlucht niedergegangen sein müssen – eine Warnung, ausgesprochen gegenüber allzu erkundungsfreudigen Menschen vielleicht, und zugleich Hinweis darauf, dass der Vorgang der Erosion ein immerwährend andauernder ist, auch wenn alles ringsum geradezu feierlich still ist und beim Betrachter der Eindruck entsteht, als halte die belebte Welt die Luft an dort oben und man warte geduldig auf ein großes Ereignis, das noch nicht eingetreten sei und habe alle Zeit der Welt, um dies weiter zu tun.

Text: Petra Zwerenz